Während das Christentum in diesen Tagen Weihnachten feiert, nutzten die Germanen die Tage zwischen dem 24. Dezember und 6. Januar, den Zeitraum der so genannten „Rauhnächte“, u. a. für Geisterbeschwörungen und Wahrsagerei. Eine Zeit also, in der Freude und Grusel nah beieinander liegen.
Das neue CTHULHU LIBRIA NEO beschäftigt sich mit der dunklen Seite der Weihnacht. Herausgeber Jörg Kleudgen berichtet uns von seinen eigenen Weihnachtserinnerungen – und erzählt eine weihnachtliche Schauergeschichte:

Zu Weihnachten hat jede Familie ihre eigenen Traditionen. Zu meiner Kindheit im katholisch geprägten Rheinland gehörte zum Warten auf die Ankunft des Christkindes das abgeschlossene Wohnzimmer dazu. Durch das Schlüsselloch konnte man bereits Tage vorher das Glitzern der Kugeln am Weihnachtsbaum erkennen, den man zusammen mit der Familie bei einem Samstagsausflug beim Förster im Wald ausgesucht und selber ausgegraben hatte. Es gab Spritzgebäck, Geschenke und natürlich die Modelleisenbahn, die mein Vater in den Wochen zuvor aufgebaut hatte.
Manche dieser Traditionen habe ich bis heute – bewusst wie auch unbewusst – bewahrt, ohne selber sonderlich religiös zu sein. Hinzugekommen ist über die Jahre eine neue Tradition: Ich habe über die Jahre eine Reihe weihnachtlicher Schauergeschichten verfasst, die in Anthologien veröffentlicht oder als kostenlose Heftchen an Freunde verschickt wurden. „Dämonen der Weihnacht“ – die ich zusammen mit Uwe Voehl schrieb – ist eine davon …
Dämonen der Weihnacht
von Uwe Voehl und Jörg Kleudgen
Gerade als Sylke die Tür des kleinen Ladens abschließen wollte, sah sie die dunkle Gestalt hinter der Scheibe. Im ersten Moment hatte sie den Eindruck, dass der Besucher sein Gesicht gegen das Glas presste und dass dieses Gesicht nur aus Schwärze und zwei rot glühenden Augen darin zu bestehen schien.
Sie zuckte zusammen, erkannte aber dann, dass ihr erster Eindruck nur auf einer Reflexion beruhte. Die roten Augen wurden von einer Spiegelung erzeugt. Ihr Rentier mit den blinkenden Leuchtdioden war der Übeltäter. Sie lächelte dem Gesicht hinter der Scheibe entschuldigend zu, wenigstens versuchte sie es, doch die geschäftsmäßige Freundlichkeit, die sie sonst so perfekt beherrschte, versagte diesmal kläglich.
Sie sah, wie sich ihr eigenes Gesicht in der Scheibe spiegelte, und es schien sich mit der schwarzen Fläche des späten Kunden auf abstoßende Art zu vermählen. Das eine überlappte das andere, sodass aus zwei Gesichtern – das eine unfertig und schwarz, das andere ihr eigenes, in dem sich noch immer Erschrecken zeigte – eine fürchterliche Fratze erzeugt wurde.
Noch immer um Freundlichkeit bemüht, bedeutete Sylke dem Fremden mit einer Geste des Fingers, dass der Laden nun geschlossen sei.
Doch er ließ sich nicht abwimmeln. Mit einem heftigen Klopfen begehrte er um Einlass. Die ganze Tür vibrierte dabei, und die Irritation, die Sylke bis soeben noch erfasst hatte, wich der Empörung.
„Hören Sie auf! Sie schlagen mir ja die Tür ein!“, rief sie, und da er sie bestimmt nicht hörte, schloss sie auf, um ihm gehörig die Meinung zu sagen.
Sie spürte einen heftigen Stoß, der sie in den Laden zurückwirbeln ließ. Um ein Haar verlor sie das Gleichgewicht, konnte sich aber gerade noch fangen.
Als sie in das Gesicht des späten Kunden blickte, erkannte sie, dass sie sich nicht geirrt hatte: Es war nicht mehr als ein schwarzer Klecks mit zwei roten Augen darin, die sie an glühende Kohlen erinnerten. Der Rest des offensichtlich deformierten Schädels lag gnädig unter der großen Kapuze verborgen, ebenso wie der Körper, der in einen schwarzen Umhang gehüllt war.
„W … was wollen Sie?“, stammelte Sylke.
„Dir ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Und dafür sorgen, dass alle deine Wünsche in Erfüllung gehen.“
„Ich … habe keine Wünsche.“
Das war gelogen, aber sie hoffte, dass die Kreatur umso schneller wieder verschwinden würde.
„Aber nicht doch! Du kannst mir nichts vormachen! Gestern erst hast du ein paar Tränen vergossen, weil die Einnahmen hinten und vorne nicht genügen, die Miete zu zahlen. Dein Konto ist so weit überzogen, dass der Dispo noch nicht einmal reicht, deinem Töchterchen seinen Herzenswunsch zu erfüllen. Dabei wünscht sie sich doch so sehr einen Kaufladen …“
Er trat näher, rückte ihr regelrecht auf die Pelle, und ein tierischer Gestank stieg ihr in die Nase. Unwillkürlich wich sie einen Schritt weit zurück, aber er folgte ihr. Aus seinem viel zu langen Ärmel zuckte eine klauenähnliche Hand hervor und fasste sie in den Schritt. „Und hast du nicht erst gestern deiner Freundin Imke von deinem Traumprinzen vorgeschwärmt? Sehnst dich wohl nach einem Bettgefährten?“
Sie spürte, wie ihr übel wurde bei dem Gedanken, der Fremde würde ihr Gewalt antun. Sie schlug die Hand beiseite, wusste aber gleichzeitig, dass sie ihm ausgeliefert war. Draußen schneite es, und kaum jemand war noch unterwegs. Sie hatte den Laden schon vor Stunden schließen wollen, hatte aber bis zuletzt noch gehofft, jemand würde vielleicht doch noch ein Weihnachtsgeschenk kaufen wollen und die Kasse wenigstens einmal heute klingeln lassen.
Nein, da war niemand, der ihr helfen würde … Und die Dose mit dem Pfefferspray lag unerreichbar in der Schublade hinter dem Tresen …
Der Fremde lachte hämisch. „Ich kann deine Angst riechen!“ Er sog genießerisch die Luft ein. „Dein kleines Hasenherz, ich höre es laut pochen.“ Er äffte es auf widerliche Weise nach. Speicheltropfen trafen Sylkes Gesicht. „Und ich schmecke deine Gier, deine Wünsche wahrwerden zu lassen und mir zu vertrauen.“ Ein ekelerregendes Schmatzen drang aus dem Inneren der Kapuze, als ob er sich genießerisch mit der Zunge über die schwarzen Lippen fuhr.
„Bitte … ich habe nichts …!“
„Eingenommen, willst du sagen? Deswegen bin ich hier. Um dir einen Handel vorzuschlagen. Deine Wünsche werden dir noch heute erfüllt: Du wirst in Geld schwimmen, genug, um deiner Tochter ihren Kaufladen tausendfach zu kaufen, und dein Traumprinz wird dir heute Abend noch zu Füßen liegen! Nun, was sagst du dazu?“
Sie musste schlucken. Und erneut trat sie einen Schritt zurück. Weit genug von ihm weg, um den übelkeitserregenden Gestank nicht direkt in der Nase zu haben. Aber auch, um sich einen weiteren Schritt dem Tresen zu nähern.
Woher wusste er das alles? Gut, gestern Mittag hatte sie sich mit ihrer Freundin Imke im Hexenstübchen getroffen und bei einer Tasse Tee von einem Kunden geschwärmt, der am Vortag ihr Geschäft betreten hatte: schlank, hochgewachsen, volles, schwarzes Haar und markante Gesichtszüge. In seinem Schurwollmantel und mit seinen blank polierten Schuhen hatte er sehr elegant ausgesehen. Er hatte sich umgeschaut, ein wenig gestöbert und schließlich ein Glas von der selbst gemachten Brombeermarmelade gekauft. Als er zahlte, hatte sie sein edles Aftershave geschnuppert und daran denken müssen, dass sie viel zu lange schon solo war. Als er sich verabschiedete, hatte er ihr freundlich zugelächelt …
Aber woher wusste der finstere Eindringling davon? Hatte er sie im Café belauscht? Aber wie? Solch eine Kreatur wäre ihr sofort aufgefallen.
Und woher wusste er von Lizas Wunsch, endlich vom Christkind den ersehnten Kaufladen zu bekommen? Der Gedanke, dass er ihrer Tochter aufgelauert und ausgefragt hatte, machte sie fast wahnsinnig.
Und ihr Kontostand? Hatte er ihr Passwort gehackt und wusste über ihre desaströse Finanzlage Bescheid?
„Was zögerst du noch?“, unterbrach er ihre Gedanken. „Freu dich!“
„Ich würde mich freuen, wenn ich wüsste, was das alles zu bedeuten hat! Und was der Preis dafür ist!“
„Oho, sie weiß, dass nichts umsonst ist! Fürwahr, ich verlange eine Gegenleistung dafür. Sie ist gering angesichts dessen, was ich dir versprochen habe und halten werde.“
Jetzt würde er gleich von ihr verlangen, dass sie sich ihm hingeben sollte, und allein der Gedanke, seine rauen Hände würden sie berühren, ließ sie erzittern.
„Das sind meine Forderungen: … vom Heiligen ein Haar, vom Geflügelten eine Feder und vom Schwarzen das Herz. Hast du gut zugehört?“
Sylke nickte, obwohl sie nichts begriffen hatte. „Und wenn … wenn ich nichts davon …“
„Dann gehört deine Seele mir!“ Er lachte laut, wandte sich um und verließ den Laden.

Rasch rannte Sylke zur Tür, warf sie zu und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss. Sie presste ihr Gesicht gegen die Scheibe, konnte den unheimlichen Fremden aber nirgendwo mehr sehen. Die wirbelnden Schneeflocken schienen ihn wie vom Erdboden verschluckt zu haben.
Aufatmend drehte sie sich um, wandte sich wieder dem Laden zu. Und erschrak.
Der BLITZ-Blog wünscht allen Lesern frohe Weihnachtstage, einen guten Übergang ins Neue Jahr und schaurig-schöne Rauhnächte.