Ina Kramer hat in den 1980ern daran mitgewirkt, das Rollenspielsystem „Das Schwarze Auge‟ aus der Taufe zu heben und durch ihre Illustrationen und Karten wesentlich zur Optik des fantastischen Kontinents Aventurien beigetragen. Mit ihrer Biographie über die Hexe Greetja wendet sich die Autorin nun wieder der fantastischen Welt zu, an deren Erschaffung sie einst beteiligt war. Der BLITZ-Blog hat sich zum Anlass der neuen Romanveröffentlichung mit Ina Kramer unterhalten …
BLITZ: Gibt es Autor(inn)en, die Sie auf Ihrem Weg beeinflusst haben und, wenn ja, um wen handelt es sich?
Kramer: Ja, die gibt es. Allerdings handelt es sich nicht um Fantasy-Autorinnen und -autoren. Bevor ich „Die Löwin von Neetha‟ geschrieben habe, hatte ich mit großem Vergnügen eine Romanbiographie über Heinrich VIII von Margaret George gelesen. Die Anregung, ebenfalls eine Romanbiographie zu verfassen, nun selbstverständlich über eine historische aventurische Persönlichkeit, kam von Ulrich Kiesow. Möglicherweise hat er sogar die heilige Thalionmel vorgeschlagen.
Bei den beiden Bänden „Im Farindelwald‟ und „Die Suche‟ bildet die Erlösung eines sündigen und verfluchten Zwillingspaares den Kern und Zielpunkt der Geschichte. Das Motiv der verbotenen Geschwisterliebe ist zwar alt, aber ich habe mich von Thomas Mann dazu inspirieren lassen. Man findet es in seiner Erzählung „Wälsungenblut‟ (dort sogar zweifach, da die Zwillinge Siegmund und Sieglinde vor dem Inzest die Wagner-Oper „Die Walküre‟ besuchen, in der die Geschwister Siegmund und Sieglinde ebenfall in verbotener Liebe zueinander entbrannt sind) und seinem bezaubernden Spätwerk „Der Erwählte‟.
Das Motiv der durchsichtigen Haut entstammt dem Roman „Besessen‟ von Antonia S. Byatt. Dort findet es sich in der bretonischen Legende von der versunkenen Stadt Ys, spielt aber im Romankontext keine nennenswerte Rolle und wird auch nicht, wie bei mir, als etwas absolut Grauenhaftes dargestellt.
BLITZ: Ihre Arbeit an der Welt des Schwarzen Auges reicht bis zu den Anfängen zurück. Wie waren Sie an der Schöpfung der Rollenspielwelt beteiligt?
Kramer: Mein schöpferischer Anteil war eher bescheiden. Ich habe, wie schon mehrfach erwähnt, meinem damaligen Lebensgefährten und späteren Ehemann Ulrich Kiesow bei der Erstellung des Regelwerks assistiert, also mit ihm über seine Ideen gesprochen, vieles mit ihm ausprobiert, gelegentlich einen Verbesserungsvorschlag gemacht… Und dann hoffe ich, mit einigen Illustrationen, vor allem den Porträts und den Regionalkarten, der Welt Aventurien ein wenig Leben eingehaucht zu haben.
BLITZ: Sie haben in den 1990ern vier Romane verfasst, die in Aventurien spielen, aber auch das Schwarze Auge-Abenteuer „Der Zorn des Bären‟. Wie unterschiedlich ist die Arbeit an einem Roman im Vergleich zur Entwicklung eines spielbaren Abenteuers?
Kramer: Nun muss ich etwas ausholen: Wie ebenfalls schon mehrfach erwähnt, haben Ulli und ich in den 80er und 90er Jahren viele der Werke von Tolstoi und Turgenjew gelesen. Die Lebensbedingungen und das Lebensgefühl im Russland des 19. Jahrhunderts ließen wir, abgewandelt und an aventurische Verhältnisse angepasst, ins Bornland einfließen; es wurde sozusagen unsere Lieblingsregion. Ulli hatte dort die Gräfin Thesia von Ilmenstein angesiedelt, die ihrer Freundin Mirhiban, im Wesentlichen von mir gestaltet, die Baronie Pervin schenkt. Schon bald entstand die Idee, genau dort ein Abenteuer spielen zu lassen, und zwar eines, das die düsteren bornischen Aspekte weitgehend ausklammert, aber dem bornischen Winter eine Hauptrolle zugesteht. Ich sollte es schreiben, da ich Mirhiban am besten kannte. Da ich jedoch völlig unerfahren im Abenteuerschreiben war, habe ich viel Hilfe und Unterstützung von Ulli erhalten. Ein Abenteuer geleitet hatte ich ebenfalls noch nicht, ich kannte nur die Spielerseite. Und so bat ich, als die Rohfassung stand, Ulli, unseren „Lieblingsmeister‟, das Probespiel zu leiten. Erst danach habe ich es endgültig ausformuliert. Beim Schreiben und Spielen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es zwei Voraussetzungen für das erfolgreiche Verfassen eines Abenteuers gibt: Perfekte Regelkenntnisse und die Erfahrung als/die Befähigung zum Spielleiter. Regelkenntnisse kann man sich aneignen, aber das „Meistern‟ ist eine Fähigkeit, die ich nicht zu besitze. Es drängt mich auch nicht dazu, und ich habe bis heute kein Spiel geleitet. So ist es bei diesem einen Abenteuer geblieben.

Bei einem DSA-Roman sind Regelkenntnisse selbstverständlich auch von Nutzen, aber nicht so zwingend erforderlich wie bei einem Abenteuer. Ich finde, man kann sich, wenn es die Situation erfordert und/oder dem Handlungsverlauf dient, auch einmal über Regeln hinwegsetzen.
Ein weit größerer Unterschied aber besteht darin, dass es beim Abenteuer ja ein Gegenüber gibt, die Spieler, deren Reaktionen und Handlungen man zwar in eine gewisse Richtung lenken, aber nie wirklich voraussagen kann. Das bietet dem „Meister‟ Gestaltungsspielraum und fordert sein Improvisationstalent heraus. Beim Roman aber müssen die Aktionen der handelnden Figuren einer inneren Logik folgen, ihre Dialoge müssen stimmig sein, und das Erzeugen von Stimmungen und Spannungsbögen, beim Abenteuer zu einem gewissen Teil dem Spielleiter überlassen, liegt beim Roman allein in der Hand der Autorin/des Autors. Daher unterscheidet sich auch die Sprache der Texte.
BLITZ: Wie kam es dazu, dass Sie im vergangenen Jahr nach längerer Pause wieder begonnen haben, sich schriftstellerisch mit dem Kontinent Aventurien zu beschäftigen?
Kramer: Das hat allein Kai Frerich zu verantworten. Im Sommer 2018 fragte er mich, ob ich bereit sei für ein Interview. Das war ich, ein paar Mails gingen hin und her, das Interview wurde gemacht, und ich dachte nicht weiter darüber nach. Doch dann schrieb mir Kai, dass er ein kleines Dankeschön-Geschenk für mich habe, das er gern vorbeibringen würde. Ich antwortete, sein Besuch sei mir hochwillkommen, ein Geschenk, zumal eines von materiellem Wert, aber wolle ich nicht haben. Das kleine Geschenk erwies sich dann als eine riesige Tischdecke, auf die er meine Aventurienkarte hatte drucken lassen. Natürlich konnte ich sie nicht zurückweisen, dazu war sie viel zu schön und ich viel zu gerührt. Es stellte sich heraus, dass Kai ein echter Fan meiner Karten ist, und das nach so vielen Jahren! Eine solche Wertschätzung hatten meine Arbeiten nie erfahren; sie wurden als handwerklich gut ausgeführte Auftragsarbeiten betrachtet. (Damals war ja noch alles Handarbeit, nicht nur das Malen selbst mit Acrylfarbe und zum Teil superfeinen Pinseln, sondern auch die Erstellung der Druckvorlagen mit Hilfe von Deckfolien, eine für die Farbtrennung – das Meerwasser wurde technisch eingezogen – und eine für die Beschriftung.) Ich konnte mich dann zum Glück revanchieren, wieder gingen Mails hin und her, der November nahte und mit ihm mein 70. Geburtstag. Das Geschenk, das Kai mir dazu verehrte, entlockte mir tatsächlich ein paar Tränen. Es handelte sich um eine Festschrift im Stil der alten DSA-Publikationen, mit einer Einleitung, einem sehr persönlichen Schlusswort und Illustrationen. In diesem Heft hatte Kai die Glückwünsche versammelt, zu denen er in seinem Blog aufgerufen hatte. Und aus einigen dieser Glückwünsche ging hervor, dass es tatsächlich Leute gab, die sich nicht nur an mich erinnerten, sondern sich sogar freuen würden, wieder einmal etwas von mir zu lesen. Und das gab den Anstoß – hier endlich die Antwort auf die Frage –, mal wieder ins alte Aventurien einzutauchen.
BLITZ: Wie wurden Sie zu Ihrem neuen Roman „Greetja‟ inspiriert?
Kramer: Anfang 2019 begann ich also wieder zu schreiben. So entstanden die beiden Erzählungen „Kann nicht lesen, kann nicht schreiben, aber will Baronin werden‟ und „Madame um Mitternacht‟, die Kai ins Scriptorium Aventuris stellte, die Ulisses E Book-Reihe. Beide spielen in Festum, und wie es zu der ersten kam, schildert Kai in deren Nachwort. Eine winzige Nebenrolle bekleidet dort eine „seltsame Frau‟. Sie hilft der entlaufenen Leibeigenen Dotlind, pflegt sie gesund, ist aber wortkarg und lächelt nie. Da sie außerdem eine Kröte besitzt, der sie offenbar sehr zugetan ist, vermutet die kundige Leserin/der Leser zu Recht, dass es sich bei ihr um eine Hexe handelt. Diese Hexe fing an, mich zu interessieren, und da ich von zwei Testleserinnen das Feedback erhielt, über die Dame wolle man gern mehr erfahren, war die Idee geboren, eine dritte Geschichte zu verfassen. Doch je länger ich über die Hexe nachdachte, umso klarer wurde mir, dass der Text den Umfang einer Erzählung sprengen würde. Ich beschloss daher, ihre Lebensgeschichte als biographischen Roman zu gestalten. Dass die Hexe nie lächelt und sehr schweigsam ist, dafür müsste es einen Grund geben. Auch ihr langes silbergraues Haar (Elfenhaar) würde eine Rolle spielen, und so formten sich die ersten Ideen. Ich würde meiner Protagonistin überdies einen biederen, irgendwie unhexischen Namen verpassen, Greetja, den es ebenfalls zu begründen gälte. Außerdem sollte sie, trotz der Liebe zu ihrer Kröte Branga, keine Tochter der Erde sein. Also stellte ich ihr als Seelentier eine Schleiereule, Schneefeder, zur Seite. Eulen sind die Vertrauten der Verschwiegenen Schwesternschaft, aber Greetja sollte auch dort keine Heimat finden. Und schon hatte ich die wichtigsten Zutaten beisammen für de Schilderung einer seltsam zerrissenen Persönlichkeit und ihres nicht eben geradlinigen Lebenswegs.

Greetja ist einerseits freundlich und gütig, auf der anderen Seite jähzornig, rachsüchtig, und sie neigt zu unbedachten Aktionen, die hin und wieder schlimme Folgen haben. In solchen Situationen fungiert ihre Seelenfreundin sozusagen als moralische Instanz, die Greetja zwar oft Vorwürfe machen und auf den rechten Weg weisen muss, aber niemals schwankend wird in ihrer bedingungslosen Liebe. Und noch etwas schweißt die Vertrauten zusammen: Beide sind nicht „reinblütig‟. Greetja erfährt Misstrauen, gelegentlich sogar Ablehnung von den anderen Hexen wegen der wenigen Tropfen Elfenblut in ihren Adern. Und Schneefeder, in deren Adern ein paar Tropfen Schnee-Eulenblut fließen, ergeht es ähnlich. (Irdisch ist eine Paarung zwischen Schleiereule und Schnee-Eule übrigens nicht möglich, da beide unterschiedlichen Spezies angehören.)
Der Rückseitentext des Buches deutet an, dass die Lehrmeisterin des unerfahrenen Waldkindes Greetja sich verändern wird. Auf welche Weise das geschieht, soll nicht verraten werden, nur so viel: Berenissa, so heißt sie, verlangt Lehrgeld für die Unterweisung und besteht darauf, diesen Punkt vertraglich festzulegen, füllt aber vor Vertragsabschluss das Mädchen, das keine berauschenden Getränke kennt, mit Meskinnes ab.
Neben Berenissas Entwicklung, einem wichtigen Handlungsstrang, war es mein Anliegen, die unterschiedlichen Schwesternschaften, Hexenfeste und -Rituale zu schildern und auch der mächtigen Tula von Skerdu, einer Meisterperson Ulrich Kiesows, ein paar kleine Auftritte zu gewähren. Bei einer dieser Szenen trägt Greetja Tula tatsächlich an, sie bei der Verwirklichung ihres Herzenswunsches zu unterstützen, nämlich die Leibeigenschaft abzuschaffen und das „Adelsgeschmeiß‟ zu vernichten.
Ein Kapitel ist Greetjas Besuch bei einer Elfensippe im Bornwald gewidmet. Sie will herausfinden, ob sie vielleicht eher in deren Gemeinschaft passt als zu denjenigen der Hexenschwestern. In dieser Textpassage war es mir wichtig, die Elfen als wirklich fremdartige Wesen zu schildern, die sich von den Menschen nicht nur durch spitze Ohren und gewisse Zauberfertigkeiten unterscheiden.
Liebesgeschichten gibt es auch, zum Teil mysteriös und entbehrungsreich, und vielleicht spielt dabei ja der schwarz vermummte Reiter vom Rückseitentext eine Rolle, der sein Geheimnis Greetja erst an ihrem 25. Geburtstag offenbart.
Selbstverständlich muss man bei einem so langen Leben – das Buch endet mit Greetjas 70. Geburtstag – mit Verlusten und Abschieden rechnen. Trotzdem würde ich die Grundstimmung nicht als traurig bezeichnen.
Da Greetja sehr ernst ist – Berenissa neckt sie des Öfteren wegen ihrer Humorlosigkeit –, boten mir ihre Gespräche mit Branga und Schneefeder die Möglichkeit, hin und wieder eine Prise Humor einzustreuen.
Dass der Roman so umfangreich geraten würde, 509 recht großformatige Seiten, ahnte ich zu Beginn der Arbeit nicht. So aber liefert er Unterhaltung für mehrere Abende. Und man kann ihn auch im Bett lesen; das habe ich ausprobiert.
BLITZ: Laut dem Klappentext von „Greetja‟ befindet sich ein weiterer Roman von Ihnen in Vorbereitung. Können Sie dazu schon etwas sagen?
Kramer: Ende Oktober 2019 hatte ich „Greetja‟ vollendet. Danach brauchte ich eine Denk- und Erholungspause. Aber Anfang dieses Jahres stellte sich wieder Schreiblust ein. Ich würde meine Geschichte bei einer Nivesensippe spielen lassen, beschloss ich, und bald waren die ersten anderthalb Kapitel geschrieben. Aber plötzlich dachte ich: Was? Schon wieder ein kleines Mädchen? Schon wieder ein „Mädchenbuch‟? Nein, das wollte ich auf keinen Fall! Und so gab es eine zweite Schreibpause. In dieser Zeit kam mir die Idee, verschiedene Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Und ich würde einen alten Bekannten installieren, der allerdings mittlerweile älter und dicker geworden sein sollte. Denn wenn jemand, den ich kenne, mit von der Partie wäre, würde sich bei mir so etwas wie ein Familiengefühl einstellen, etwas Verlässliches.
Vor ein paar Tagen ist der Roman fertig geworden, er hat den Titel „Das Chimären-Komplott‟. Man ahnt also, dass es sich bei der im Rückseitentext erwähnten Magierin um eine Chimärologin handelt. Und hier ist er, der Rückseitentext:
Ein Medicus, der in einem fragwürdigen Dienstverhältnis steht, eine Söldnerin, die ihren Dienst quittiert hat, ein Sohn, der seine Mutter sucht, ein Nivesenmädchen, dem der Verlobte abhandengekommen ist, eine Thorwalerin, die sich nach ihrem Liebhaber sehnt, ein Gauklerpaar auf Gastspielreise und ein Elf treffen in der Donnerbacher Schenke Zum lecken Krug aufeinander. Und dort, beflügelt von Schnaps und hitzigen Diskussionen, fassen die acht den kühnen Entschluss, gemeinsam nach Uhdenberg zu ziehen, wo eine mächtige Magierin ihr Unwesen treibt. Mit der wollen sie es aufnehmen, da einige von ihnen mit ihr noch eine Rechnung offen haben.
Auf unterschiedlichen Wegen sind die acht nach Donnerbach gereist und mussten dabei schon etliche Abenteuer bestehen. Aber auf der Fahrt nach Uhdenberg und schließlich am Zielort, dem Schloss der Magierin, warten weitere, größere Herausforderungen auf sie…
Der Roman lässt unterschiedliche Handlungsstränge in das Donnerbacher Treffen münden. Dabei lernt man die Protagonisten und ihre Vorgeschichten kennen. Und vielleicht freut sich der/die eine oder andere Leser/in, alten (inzwischen älter gewordenen) Bekannten wieder zu begegnen.
BLITZ: Vielen Dank für das Gespräch!